Ein Wundermittel? Das sind "Kalte Plasmen" vielleicht nicht - doch immerhin sind sie so vielfältig, dass sich Forscher darum reißen, sie für ihre Zwecke brauchbar zu machen. Ingenieure verwenden sie für Raumfahrtantriebe, Mediziner entfalten mit ihrer Hilfe heilende Kräfte, Physiker produzieren damit neue Phänomene. "Kalte Plasmen haben grundlegende Bedeutung für die Fundamentalphysik, aber auch eine erstaunliche Wirkung in der Wundheilung", sagt der Plasmaphysiker Gregor Morfill, Direktor am Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik (MPE) in Garching. "Sie sind ein Stoff mit vielen segensreichen Eigenschaften, die es zu erforschen gilt." Plasmen bilden - neben fest, flüssig und gasförmig, als "vierter Aggregatzustand" 99 Prozent aller sichtbaren Materie im Universum. Bei den kalten Plasmen geht es um einen gasförmigen Mix niedriger Energie, in dem ionisierte Moleküle, Elektronen und Staubpartikel herumschwirren.
Solche staubigen oder auch "komplexen" Plasmen sind Lieblingsgebilde der Astrophysiker. Schließlich staubt es im ganzen Weltall: Der interstellare Raum ist erfüllt von kalten Plasmen, Planeten entstehen aus Staubscheiben, die junge Sterne umkreisen; in Kometen ("staubigen Eisbällen") ionisiert das UV-Licht der Sonne die verdampfenden Gase. Physiker des MPE waren daher überrascht, als ihnen 2005 auffiel, dass kalte Plasmen fernab des Weltraums auch in der Medizin Nutzen stiften können: bei der Sterilisation und Wundheilung. Für diesen Zweck werden die ionisierten Gase bei gewöhnlichem Luftdruck und Zimmertemperatur eingesetzt.
Die Verletzungen heilten nach der Plasma-Behandlung um bis zu 30 Prozent schneller
Sie können Ärzten demnächst bei Antibiotika-Resistenzen helfen. Multiresistente Keime haben sich in den vergangenen Jahren zur großen Infektionsgefahr entwickelt, besonders in Kliniken. Wie die Bundesregierung in einem Entwurf zur Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie berichtet, die noch dieses Jahr verabschiedet werden soll, erkranken in Deutschland jährlich etwa eine halbe Million Patienten an Krankenhausinfektionen, zwischen 7500 bis 15 000 sterben sogar daran.
In diese Problemzone peilen die Plasmamediziner. Als Ausgründung des MPE befasst sich etwa der Technologie-Start-up Terraplasma im Forschungscampus Garching bei München seit 2011 mit der Entwicklung von Medizingeräten, die in den kommenden Jahren marktreif sein sollen. Eine Reihe von Labor-Untersuchungen habe bereits gezeigt, berichtet die Biophysikerin Julia Zimmermann von der Firma, "dass sowohl Bakterien und Pilze als auch Biofilme, Viren und Sporen sehr effizient mit kaltem Plasma abgetötet werden können."
Speziell die gefürchteten MRSA-Bakterien ließen sich im Labor mit speziellen kalten Plasmen innerhalb von 30 Sekunden inaktivieren und vernichten. Bei Patienten wird das ionisierte Gas über kleine Düsen wie in einem sanften Luftstrom auf die betroffenen Hautstellen geleitet. Die Behandlungen von jeweils wenigen Minuten Dauer sind für Patienten harmlos und gut verträglich, belegen klinische Studien, die am MPE zusammen mit dem Klinikum Schwabing und dem Universitätsklinikum Regensburg bis Ende 2013 durchgeführt wurden. Ziel war es jeweils, in infizierten chronischen Wunden die Bakterien mit kaltem Plasma abzutöten und die Wundheilung zu fördern. Die Verletzungen heilten laut den Studien durch die Behandlung im Schnitt um 30 Prozent schneller. Bei Hauterkrankungen lassen sich die Plasmen zudem so justieren, dass nur die Keime, aber nicht die intakte Haut zerstört wird.
Die genaue Wirkung der Plasmen ist den Plasmamedizinern allerdings noch etwas nebulös. Sobald das Plasma in den Geräten erzeugt wird, kommen an die 600 Reaktionen in Gang. "Es ist der reaktive Cocktail im Plasma - mit Elektronen, Ionen, reaktiven Molekülen sowie UV-Strahlung", so Julia Zimmermann. "Dieser Mix bereitet den Bakterien den Garaus."
Andere klinische Studien galten der Gürtelrose, einer schmerzhaften Virenerkrankung mit Läsionen, offenbar mit ähnlich positiven Resultaten, oder dem Morbus Hailey-Hailey, einer Verhornungsstörung der Haut mit Blasenbildung und häufigen Sekundärinfektionen. "Schon acht Behandlungen brachten deutliche Linderung," berichtet Zimmermann.
Auch abseits medizinischer Anwendungen sind kalte Plasmen nützlich. So lassen sich damit Raumschiffe antreiben, eigentlich eine alte Idee vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Doch erst von den 1960er-Jahren an wurden Ionentriebwerke ernsthaft entwickelt, seit sie mit Radiowellen betrieben werden. Typischerweise werden dabei Wellen mit Radiofrequenzen in eine Kammer gestrahlt, die mit dem Edelgas Xenon gefüllt ist. Die Ionen, die dabei entstehen, werden nach dem Austritt elektrisch neutralisiert und schließlich mit extrem hohen Geschwindigkeiten von bis zu 50 Kilometer pro Sekunde ausgeschleudert. Zum Vergleich: Bei konventionellen chemischen Antrieben erreichen die Austrittsgase höchstens einige Kilometer pro Sekunde, und das nur für Minuten. Dagegen können Ionentriebwerke, Energie vorausgesetzt, sogar jahrelang beschleunigen und damit für hohe Endgeschwindigkeiten sorgen.
Die Vorteile solcher Plasmaantriebe: weniger Treibstoff, extrem lange Lebensdauer, exakte Steuerbarkeit. Die Nachteile: kleine Schubkräfte, Betrieb nur im Vakuum, Energieversorgung nur mit Solarzellen oder Nuklearbatterien. Entsprechend dienen Ionenantriebe hauptsächlich für die Feinsteuerung: zur Lageregulierung oder Bahnanhebungen von Satelliten. Doch auch zum Mond kann man damit fliegen. Schon 2003 schickten die Ingenieure der Europäischen Raumagentur ESA den Satelliten Smart-1 mit einem Ionenantrieb zum Erdtrabanten - nach der amerikanischen Deep Space 1 und der japanischen Hayabusa bereits die dritte Raumsonde mit diesem Antrieb. Wegen der geringen Schubkraft dauerte der Trip etwas länger als sonst: 18 Monate vergingen bis zum gewünschten Mondorbit. Auch die Nasa-Sonde Dawn, seit 2007 zum Asteroidengürtel unterwegs, ist mit Ionentriebwerken ausgerüstet.
Derzeit arbeiten etliche Institute, darunter das Deutsche Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR), die Universität Gießen, die ESA sowie die Raumfahrtindustrie, bereits am nächsten Schritt: neue Triebwerke für Satelliten zur Erdbeobachtung ebenso wie für Sonden zum Mars. Bis Ende dieses Jahres sollen voll flugtaugliche Prototypen eines neuen Mikro-Ionenantriebs vorliegen, zwar mit reduziertem Schub, dafür besonders präzise zu steuern.
Bewähren sie sich auf den Testständen, ist geplant, sie in ehrgeizigen Weltraumprojekten zum Einsatz zu bringen, etwa für das ESA-Projekt Elisa (evolved Laser Interferometer Space Antenna). Damit sollen einmal drei Satelliten in einer Dreiecksformation entlang der Erdbahn positioniert werden und im Verbund Gravitationswellen aus Zeiten des Urknalls und von Schwarzen Löchern einfangen. Diese Wellen, die einst Einstein vorhersagte, sollen über winzige Änderungen im Abstand der Trabanten zueinander detektiert werden. Das verlangt ein wirkliches Kunststück: gegenseitige Laserortung und äußerst präzise Lageregulierung der Satelliten mit den neuen Ionendüsen auf Millimeter genau - bei jeweiligen Abständen von einer Million Kilometer. Allerdings wird das Projekt noch ein wenig dauern. Nach heutiger Planung soll Elisa, falls die Finanzierung zustande kommt, frühestens 2034 starten.
Neben Raumfahrtantrieben und medizinischen Anwendungen konnten Kalte Plasmen Physiker auch mit einem neuen Phänomen verblüffen: den sogenannten Plasmakristallen. Was auf der Erde wegen der Schwerkraft nur rudimentär möglich wäre, klappt in der Schwerelosigkeit des Weltraums. Ungehindert durch Gravitationskräfte stoßen sich dort die elektrisch aufgeladenen Mikropartikel im kalten Plasma gegenseitig ab und ordnen sich nach Art eines Kristalls zu hexagonalen Strukturen. Dass die Abstände zwischen den Teilchen Bruchteile von Millimetern erreichen, macht sie im Vergleich zu echten, atomaren Kristallen zu ungewöhnlichen, makroskopischen Objekten. Unter Bedingungen der Mikrogravitation zeigen die Pseudokristalle feste, flüssige und sogar chaotische Phasen. Da die Mikropartikel aber so groß sind, verlaufen alle Prozesse deutlich langsamer als in der atomaren Welt.
Das macht komplexe Plasmen geeignet als Modellsysteme. "Diese Phasenübergänge", sagt Plasmaphysiker Markus Thoma von der Universität Gießen, "können wir so dynamisch in Echtzeit verfolgen, was bei normalen Kristallen unmöglich wäre." Der Plasmaphysiker begleitet diese Forschungen schon seit 2001, zusammen mit dem DLR zunächst am MPE, inzwischen an der Universität Gießen. Tests mit ballistischen Raketen sowie auf der Internationalen Raumstation ISS folgten in den letzten Jahren.
Ob die Forscher mit Plasmakristallen etwas anfangen können, ist heute noch unklar, Grundlagenforschung eben. Aber diesen Oktober geht es wieder von Baikonur auf die ISS, diesmal mit einem Nachfolgeexperiment - falls die Politik nicht dazwischenkommt. "Kalte Plasmen haben ein hohes Potenzial für nützliche Anwendungen", sagt Markus Thoma. "Es wird noch mit einigen Überraschungen zu rechnen sein."