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Amtsblatt
der Europäischen Union

DE

Serie C


C/2023/869

8.12.2023

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen“

(COM(2023) 185 final — 2023/0093 (COD))

(C/2023/869)

Berichterstatter:

Vasco de Mello

Befassung

Europäische Kommission, 20.9.2023

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2023

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.9.2023

Plenartagung Nr.

581

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

209/0/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Mit dem vorliegenden Verordnungsvorschlag sollen durch Festlegung gemeinsamer Regeln für die Übertragung von Strafverfahren zwischen den Mitgliedstaaten Lücken in der Regelung über den Europäischen Haftbefehl geschlossen werden. Dadurch sollen doppelte Verfahren betreffend ein und dieselbe Straftat mit denselben Tätern in mehr als einem Mitgliedstaat vermieden (Doppelbestrafungsverbot) und darüber hinaus Fälle von Straffreiheit aufgrund des Verzichts auf Strafverfolgung verhindert und verringert werden.

1.2.

Hierfür werden einheitliche Regeln für die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Übermittlung und Entgegennahme von Strafverfahren festgelegt.

1.3.

Außerdem soll mit dem Vorschlag eine gemeinsame digitale Struktur für die Übermittlung der Verfahrensakten aufgebaut werden.

1.4.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt diese Initiative der Kommission.

1.5.

In Bezug auf bestimmte Aspekte des Vorschlags ist der EWSA jedoch der Auffassung, dass diese ergänzt oder nachgebessert werden sollten.

1.6.

So betont der EWSA bezüglich der Grundrechte der Verfahrensbeteiligten, dass im Verordnungsvorschlag ausdrücklich auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie auf andere dem Schutz der Grundrechte dienende Rechtsinstrumente verwiesen werden sollte.

1.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass die vorgeschlagene Regelung nicht dazu dienen darf, dass verdächtige/beschuldigte Personen durch die Anwendung von Verfahrensvorschriften für sie günstigere Rechtsvorschriften in Anspruch nehmen.

1.8.

Der EWSA begrüßt die Entscheidung, gemeinsame digitale Instrumente einzuführen, um die Verfahren zu beschleunigen; dies sollte mit EU-Mitteln finanziert werden.

1.9.

Wie er jedoch bereits in früheren Stellungnahmen betont hat, sollte die Übermittlung in Papierform weiterhin möglich sein, um Personen zu berücksichtigen, die aus verschiedenen Gründen keinen Zugang zu Informationstechnologien haben.

1.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass beim gesamten Übersetzungsprozess äußerste Stringenz geboten ist, wobei durch künstliche Intelligenz oder in anderer Form maschinell und ohne Mitwirkung von Humanübersetzern angefertigte Übersetzungen nicht zulässig sein sollten.

1.11.

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass den Verfahrensbeteiligten in dem Rechtsinstrument das Recht eingeräumt werden sollte, wegen einer unzulänglichen Übersetzung von Verfahrensunterlagen einen Rechtsbehelf bei einem höheren Gericht einzulegen.

1.12.

Der EWSA bekräftigt seinen bereits in früheren Stellungnahmen geäußerten Standpunkt, dass alle im Bereich Justiz tätigen Akteure sowie weitere Akteure, u. a. Übersetzer, einschlägige Schulungen erhalten sollten.

1.13.

Der EWSA betont, dass eine Methode zur Lösung negativer Kompetenzkonflikte im Falle der Anwendung dieser Verordnung vorgesehen werden sollte.

1.14.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Möglichkeit für die ersuchende Behörde, im Falle der Annahme der Übertragung der ersuchten Behörde nur einen Teil der Akte und nicht die gesamte Akte zu übermitteln, gestrichen werden sollte.

1.15.

Damit wird ein willkürliches Vorgehen durch teilweise Übertragung einer Strafakte verhindert.

2.   Hintergrund

2.1.

Ein einheitlicher Raum für den freien Personen-, Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehr hat auch die Kehrseite, dass er zugleich einen grenzübergreifenden Raum bietet, in dem sich kriminelle Aktivitäten entwickeln können.

2.2.

Seit jeher hat die Gesellschaft dem Staat die Befugnis übertragen, diejenigen zu bestrafen, die gegen das Gesetz verstoßen und Straftaten begehen — im Gegensatz zu einer privaten Vergeltungsjustiz, die auf dem Talionsprinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ beruht.

2.3.

Die Existenz eines Strafrechts, d. h. der Möglichkeit des Staates, diejenigen zu bestrafen, die auf seinem Hoheitsgebiet gegen seine Gesetze verstoßen und folglich Straftaten begehen oder die im Ausland strafbare Handlungen gegen seine Staatsangehörigen begehen, ist ein inhärentes und zentrales Merkmal der Hoheitsbefugnisse eines Staates. (1)

2.4.

Es handelt sich um eine derart wichtige Hoheitsbefugnis der Staaten, dass die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich in den meisten Verfassungen den Parlamenten vorbehalten ist.

2.5.

Die Ausübung des Strafrechts durch den Staat, die bis zum Freiheitsentzug reichen kann, muss indes stets mit einem soliden Katalog an bürgerlichen Grundrechten einhergehen, um die Bürger vor möglichem Missbrauch oder willkürlichem Vorgehen zu schützen, wie es für Systeme charakteristisch ist, die die Rechtsstaatlichkeit missachten.

2.6.

Das Bestehen eines Binnenmarktes wirft daher zahlreiche Herausforderungen für eine wirksame Strafjustiz auf.

2.7.

Ein solcher grenzübergreifender Raum, in dem Personen, Kapital, Waren und Dienstleistungen frei zwischen den Staaten zirkulieren, kann dazu führen, dass kriminelle Aktivitäten in verschiedenen Hoheitsgebieten straffrei bleiben oder Kriminelle Zufluchtsorte finden, wenn sie strafrechtlich nicht auch grenzübergreifend verfolgt werden.

2.8.

Mit dem Fortschreiten der europäischen Integration wurde die Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Strafjustiz immer dringlicher. Zunächst wurden verschiedene Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten über Auslieferung und justizielle Zusammenarbeit (2) vereinbart, ehe dieser Aspekt dann als geteilte Zuständigkeit der Union und der Mitgliedstaaten und im Rahmen der Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Gebiet der gesamten Europäischen Union in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (3) aufgenommen wurde.

2.9.

Damit vollzog sich der Übergang von einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage bilateraler Übereinkommen über justizielle Zusammenarbeit und Auslieferung, bei der die Entscheidungsbefugnis zwischen Exekutive und Judikative geteilt war, zu einer Zusammenarbeit, bei der die Entscheidungsbefugnis bei den zuständigen Justizbehörden liegt und die Exekutive nicht nur nicht eingreift, sondern, im Gegensatz zum Auslieferungsverfahren, gänzlich ausgeschlossen ist.

2.10.

Dieser Paradigmenwechsel, der, wie bereits erwähnt, im AEUV verankert ist, beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen (4).

2.11.

Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union ist jedoch nur dann möglich, wenn ein Gleichgewicht zwischen den Grundsätzen Freiheit, Sicherheit und Recht besteht; andernfalls bestünde die Gefahr, dass die Grundrechte, Grundfreiheiten und grundlegenden Garantien der Bürger im Namen einer vermeintlichen und totalitären Sicherheit und Justiz untergraben werden.

2.12.

Damit Vertrauen in die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen herrscht, müssen die Mitgliedstaaten die Grundrechte der Bürger in gleicher oder vergleichbarer Weise anerkennen, um der zuständigen Behörde des Anerkennungsstaates in Bezug auf die Umsetzung der anerkannten gerichtlichen Entscheidung Vertrauen und Sicherheit zu geben.

2.13.

Dieser Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung fand erstmals mit dem Europäischen Haftbefehl (5) und später mit anderen, ähnlich gearteten Rechtsinstrumenten wie z. B. der Europäischen Ermittlungsanordnung (6) konkrete Anwendung im Strafrecht.

2.14.

Der Europäische Haftbefehl beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, wahrt gleichzeitig aber auch die Rechte, Freiheiten und Garantien der Bürger. (7)

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Dieser Vorschlag für eine Verordnung über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen von einem Mitgliedstaat in einen anderen ist in ähnlicher Weise wie der Europäische Haftbefehl ein Beitrag zur wirksameren und zügigeren Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, insbesondere der organisierten Kriminalität.

3.2.

Im Gegensatz zum Europäischen Haftbefehl strebt die Europäische Kommission mit diesem Vorschlag jedoch die Schaffung eines einheitlichen und direkt anwendbaren Instruments der justiziellen Zusammenarbeit für die gesamte Europäische Union an.

3.3.

Mit dieser neuen Verordnung sollen Lücken in der Regelung über den Europäischen Haftbefehl geschlossen und die europäische Strafjustiz effektiver gestaltet und verbessert werden. Beispielsweise sollen doppelte Verfahren betreffend ein und dieselbe Straftat mit denselben Tätern in mehr als einem Mitgliedstaat vermieden werden. Ferner sollen die Fälle von Straffreiheit aufgrund des Verzichts auf Strafverfolgung verhindert und verringert werden.

3.4.

Dies kann indes nur erreicht werden, wenn während des gesamten Verfahrens die Grundrechte und die individuellen Rechte insbesondere der schutzbedürftigsten Menschen, von Menschen mit Behinderungen und von Kindern uneingeschränkt gewahrt werden.

3.5.

Darüber hinaus soll mit dem Verordnungsvorschlag auch die Rechtssicherheit für die Übertragung von Gerichtsverfahren zwischen Mitgliedstaaten erhöht werden.

3.6.

Der EWSA misst allen Initiativen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität in den Mitgliedstaaten, insbesondere der am stärksten organisierten Kriminalität, große Bedeutung bei. (8)

3.7.

Das Bestehen krimineller Organisationen, die auf dem Gebiet der Europäischen Union tätig sind und deren Aktivitäten der europäischen Gesellschaft in hohem Maße schaden, erfordert eine entschlossene gemeinsame Reaktion. Bleibt diese aus, drohen Fälle von Straffreiheit, was absolut nicht wünschenswert ist.

3.8.

Der EWSA hält die Entscheidung der Kommission für das Rechtsinstrument einer Verordnung für gewagt. Die Thematik fällt zwar in die geteilte Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (9), doch es handelt sich um einen für die Mitgliedstaaten äußerst sensiblen Bereich und eine Zuständigkeit, die wie oben dargelegt Teil der staatlichen Souveränität ist.

3.9.

Der EWSA ist aber der Ansicht, dass dies die einzig richtige Entscheidung ist, da nur mit einer Verordnung das Ziel einer Vereinheitlichung der Verfahren in allen Mitgliedstaaten erreicht werden kann. (10)

3.10.

Wie in der Begründung des Vorschlags erläutert, kann die grenzüberschreitende Kriminalität nur durch gemeinsame Vorschriften für die Übertragung von Strafverfahren wirksam bekämpft werden.

3.11.

Der EWSA ist der Meinung, dass der Verordnungsvorschlag für einen korrekten Schutz der Grundrechte der Bürger sowohl aus Sicht der verdächtigen/beschuldigten Person als auch aus Sicht des Opfers sorgt, und zwar zum einen durch eine umfassende Liste von Gründen für die Ablehnung der Übermittlung und zum anderen durch das Recht der verdächtigen/beschuldigten Person und des Opfers auf Anhörung und auf einen wirksamen Rechtsbehelf.

3.12.

Der EWSA betont jedoch, dass im Verordnungsvorschlag ausdrücklich auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie auf andere dem Schutz der Grundrechte dienende Rechtsinstrumente verwiesen werden sollte. (11)

3.13.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Möglichkeit der Übertragung von Strafverfahren von Staaten, in denen das Legalitätsprinzip (12) gilt, auf Staaten, in denen das Opportunitätsprinzip (13) gilt, den Straftäter im Hinblick auf eine mildere Strafe begünstigen und damit die Ziele dieses Vorschlags untergraben könnte (14).

3.14.

Der EWSA erachtet es als äußerst positiv, dass Strafverfahren zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten digital übermittelt werden.

3.15.

Eine Übermittlung in Papierform sollte jedoch weiterhin möglich sein, um sicherzustellen, dass die Informationen für alle zugänglich sind, insbesondere für die besonders schutzbedürftigen Personen. (15)

3.16.

Der EWSA betont jedoch, dass ein gemeinsames IT-System mit gemeinsamen Bestimmungen nicht ausreicht. Es gilt vielmehr, auch eine einheitliche leistungsfähige Infrastruktur auf Unionsebene für alle Mitgliedstaaten einzurichten, die mit den verschiedenen von den Mitgliedstaaten genutzten Systemen kompatibel ist.

3.17.

Nach Ansicht des EWSA und wie bereits in früheren Ausschussstellungnahmen (16) dargelegt müssen diese Investitionen über EU-Mittel finanziert werden.

3.18.

Der EWSA bekräftigt seinen bereits in früheren Stellungnahmen (17) geäußerten Standpunkt, dass zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung dieses Rechtsakts Schulungen für die im Bereich Justiz tätigen Akteure zu dieser Thematik sowie zur Nutzung des Onlinesystems für die Übermittlung von Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten erforderlich sind.

3.19.

Diese Schulungen sollten den Besonderheiten und Bedürfnissen der verdächtigen/beschuldigten Personen, Zeugen und schutzbedürftiger Opfer Rechnung tragen.

3.20.

Sie sollten sich insbesondere an Richter und Staatsanwälte richten, allerdings sollten nach Ansicht des EWSA auch andere wichtige Akteure im Gerichtsverfahren, u. a. Rechtsanwälte, Übersetzer usw., besser geschult werden. (18)

3.21.

Der EWSA betont, dass die Übersetzung aller Dokumente der Verfahrensakte so genau und zuverlässig wie möglich sein sollte.

3.22.

Die Mitgliedstaaten müssen die Zuverlässigkeit der Übersetzung aller Dokumente der Verfahrensakte gewährleisten.

3.23.

Nach Ansicht des EWSA sollte eine Bestimmung in den Verordnungsvorschlag aufgenommen werden, wonach die Anfertigung von Übersetzungen ausschließlich mit maschinellen Übersetzungsinstrumenten oder künstlicher Intelligenz nicht zulässig ist.

3.24.

Übersetzungen, die ohne Mitwirkung von Humanübersetzern angefertigt werden, können zu falschen Schlussfolgerungen und somit zu fehlerhaften Gerichtsverfahren und Urteilen führen.

3.25.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Kostenfaktor für die Übersetzung der Dokumente der Verfahrensakte eine schlechtere Übersetzungsqualität zur Folge haben und damit zu einer Beeinträchtigung der Rechte und Garantien aller Verfahrensbeteiligten führen könnte.

3.26.

Nach Meinung des EWSA sollten sowohl die verdächtigen/beschuldigten Personen als auch die Opfer das Recht haben, in Bezug auf Fragen der Übersetzung der Dokumente der Verfahrensakte Beschwerde bzw. Rechtsbehelf einzulegen.

3.27.

Abschließend zwei weitere Anmerkungen:

3.28.

Der Verordnungsvorschlag bietet keine Lösung für den Fall eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen Gerichten derselben Gerichtsbarkeit.

3.28.1.

Wenn also die Justizbehörde des ersuchten Staates die Übermittlung des Verfahrens ablehnt, wäre es möglich, dass die Strafverfolgung nicht fortgesetzt wird, weil sich die Behörden der beiden betroffenen Mitgliedstaaten für unzuständig erklären.

3.28.1.1.

Nach Ansicht des EWSA sollte für derartige Fälle ein gerichtliches Verfahren zur Lösung des Kompetenzkonflikts vorgesehen werden, z. B. die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union für die Entscheidung derartiger Kompetenzkonflikte.

3.28.2.

Abschließend vertritt der EWSA die Auffassung, dass die ersuchende Behörde nach Annahme der Übermittlung des Strafverfahrens das Original der Verfahrensakte samt Übersetzungen oder eine Kopie davon übermitteln sollte.

3.28.2.1.

Daher sollte der Verweis auf die Möglichkeit, nur die „sachdienlichen Teile“ der Verfahrensakte zu übermitteln, gestrichen werden, da dies die Verteidigungsrechte der verdächtigen/beschuldigten Personen bzw. der Opfer beeinträchtigt.

3.28.2.2.

So kann die willkürliche Übermittlung von Verfahrensunterlagen vermieden werden, die für eine der Parteien vorteilhafter sein könnten.

Brüssel, den 20. September 2023

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Oliver RÖPKE


(1)  Die Anwendung ausländischen Rechts auf Straftaten, die in einem bestimmten Hoheitsgebiet begangen werden, ist für die Staatsangehörigen dieses Gebiets stets klarer Ausdruck des Verlusts staatlicher Souveränität. Dies geschah beispielsweise Ende des 19. Jahrhunderts in China, als die Europäer dem chinesischen Staat den Grundsatz aufzwangen, dass über die Staatsangehörigen ihrer Länder privatrechtlich nach dem Recht ihrer Herkunftsländer zu urteilen war.

(2)  Siehe hierzu das Europäische Auslieferungsübereinkommen aus dem Jahr 1957, das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959, das Europäische Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung vom 15. Mai 1972, das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen sowie zahlreiche multi- und bilaterale Auslieferungsübereinkommen zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten.

(3)  Siehe Artikel 3 Absatz 2 und Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe j sowie Titel V, insbesondere Artikel 67 bis 82 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

(4)  Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen ist in Artikel 67 Absatz 3 AEUV verankert und bedeutet letztlich die Anerkennung einer gerichtlichen Entscheidung, die von einer zuständigen Behörde in einem Mitgliedstaat getroffen wurde, durch eine andere zuständige Behörde in einem anderen Mitgliedstaat, wobei die Entscheidung in dem anerkennenden Mitgliedstaat die gleiche Wirkung entfalten sollte wie die einer zuständigen nationalen Behörde dieses Mitgliedstaats (siehe Manuel Monteiro Guedes: Do mandado de detenção europeu, S. 65, Almedina, Coimbra, 2006). Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen wurde als Gegenentwurf zum Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit entwickelt, der für Auslieferungsabkommen kennzeichnend ist. Diesem Grundsatz zufolge müssen die der verdächtigen oder beschuldigten Person zur Last gelegten Tatbestände sowohl nach dem Recht des ersuchenden Staates als auch nach dem Recht des ersuchten Staates als Straftat eingestuft sein, damit eine Auslieferung stattfinden kann.

(5)  Für den Europäischen Haftbefehl siehe Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1), geändert durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. L 81 vom 27.3.2009, S. 24).

(6)  Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. L 130 vom 1.5.2014, S. 1).

(7)  Dies geht eindeutig aus der Liste der Gründe für die Ablehnung eines Europäischen Haftbefehls, auf die sich die zuständige Behörde des Anerkennungsstaats berufen kann, aus den Einschränkungen für die Anwendung des Haftbefehls selbst und letztlich aus den garantierten Verfahrensrechten der verdächtigen oder beschuldigten Person hervor.

(8)  In seiner Stellungnahme zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Digitalisierung der Justiz in der Europäischen Union — Ein Instrumentarium für Gelegenheiten“ (COM(2020) 710 final) (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 88) hielt der EWSA fest: „Die Digitalisierung der Justiz ist nach Auffassung des EWSA ein grundlegendes Instrument, um eine echte Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung krimineller Praktiken zu gewährleisten, die in Europa erheblichen Schaden anrichten.“

(9)  Siehe Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe j AEUV.

(10)  Dies könnte einen Prozess der Föderalisierung anstoßen, der den Befindlichkeiten der Mitgliedstaaten Rechnung tragen muss.

(11)  Die zu schützenden Grundrechte müssen genau bestimmt werden, auch wenn die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verpflichtet sind, diese Rechte „bei der Durchführung des Rechts der Union“ zu achten, und zwar sowohl in Bezug auf das Primärrecht als auch das abgeleitete Recht.

(12)  In der Rechtslehre wird das Legalitätsprinzip im Strafverfahren als die rechtliche Verpflichtung der Justizbehörden definiert, ein Strafverfahren zu führen, ohne dass Verhandlungen mit der verdächtigen/beschuldigten Person über das Strafmaß möglich sind.

(13)  Im Gegensatz zum Legalitätsprinzip hat die Justizbehörde, die das Strafverfahren führt, gemäß dem Opportunitätsprinzip die Möglichkeit, mit der verdächtigen/beschuldigten Person über das Strafmaß zu verhandeln, da der Richter lediglich die Aufgabe hat, die erzielte Vereinbarung zu genehmigen.

(14)  Der vorliegende Verordnungsvorschlag darf der verdächtigen/beschuldigten Person nicht als Mittel dienen, um die für sie während der Ermittlungsphase geltenden Zwangsmaßnahmen oder das mögliche Strafmaß abzumildern.

(15)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit und des Zugangs zur Justiz in grenzüberschreitenden Zivil-, Handels- und Strafsachen und zur Änderung bestimmter Rechtsakte im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit“ (COM(2021) 759 final — 2021/0394 (COD)), „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/8/EG des Rates, der Rahmenbeschlüsse des Rates 2002/465/JI, 2002/584/JI, 2003/577/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI, 2008/947/JI, 2009/829/JI und 2009/948/JI sowie der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit“ (COM(2021) 760 final — 2021/0395 (COD)) (ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 77).

(16)   ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 88.

(17)   ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 77 und ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 88.

(18)  Siehe diesbezüglich „Gewährleistung der EU-weiten Rechtspflege — Eine Strategie für die justizielle Aus- und Fortbildung auf europäischer Ebene für den Zeitraum 2021–2024“ (COM(2020) 713 final).


ELI: http://data.europa.eu/eli/C/2023/869/oj

ISSN 1977-088X (electronic edition)