Warum hält "agile" eigentlich nicht das, was es verspricht? Dazu gibt es viele Meinungen, die nach meiner Einschätzung alle den gleichen Ursprung haben: wir bewundern das falsche Problem. Der monotone Blick auf die Optimierung der Arbeit innerhalb von und zwischen Teams, adressiert nicht die strukturellen Probleme, die oft die Ursache von Produktivitätsverlusten, langsamer Time-to-Market oder Qualitätsproblemen sind. Ein Beispiel: Eine mittelgroße Genossenschaftsbank verzeichnet einen deutlichen Rückgang in der Kund:innengruppe 16-25 Jahre. Auch Kund:innen, die bereits ein Jugendkonto haben, wechseln zur Konkurrenz. Dabei gibt es sogar speziell auf diese Altersgruppe zugeschnittene Finanzprodukte. Jetzt soll durch agile Teams die Zusammenarbeit zwischen den Bereichen verbessert werden, um eine End-2-End Betreuung der jungen Kund:innen zu gewährleisten. Ein Jahr später herrscht bei allen Beteiligten Frust: der Schmerz in neuen Teams zu arbeiten, ist nach wie vor groß; in der Art der Führung hat sich wenig geändert; Abhängigkeiten erschweren weiterhin die Wertgenerierung. Berater:innen werden hinzugezogen und machen sich an die Arbeit: Mindset-Schulungen, Leadership Coachings, bereichsübergreifende Kanbanboards, usw. In der Regel werden die Schmerzen der Organisation durch diese gut gemeinten Aktionen nicht wesentlich gelindert, obwohl man methodisch wahrscheinlich Vieles richtig macht. Etwas richtig zu machen, nützt nur leider nichts, wenn die falschen Dinge richtig gemacht werden. Wenn man also ein Pflaster auf die Symptome klebt, ohne die Ursache zu diagnostizieren. Im Fall der Genossenschaftsbank lag die Ursache für die vielen Schmerzen in einer verkümmerten strategischen Steuerung. Heißt konkret: Die Optimierung des aktuellen Geschäfts (z.B. durch Schaffung von Finanzprodukten speziell für die jüngere Kund:innengruppe) hat immer den Blick in die Zukunft geschlagen (hier: das Denken über Finanzprodukte hinaus in "Beyond Banking Produkten", die bei den jungen Kund:innen immer kaufrelevanter werden). Und dieses "Hier und Jetzt schlägt Zukunft" war strukturell in der Organisation verankert. Vor allen durch: 👉 Rollenunionen, die beides im Fokus haben sollten und dadurch Zielkonflikte nicht passfähig austragen konnten 👉 karriererelevante Bewertungen, die sich an Kennzahlen basierend auf dem Erfolg des aktuellen Geschäfts orientierten 👉 Budgetierungsprozesse, die das aktuelle Geschäft unhinterfragt favorisierten Diese Ursachen sind modellierbar mit direkten Auswirkungen auf die spürbaren Symptome. Nur müssen diese erst einmal erkannt sein, bevor wild agiert wird. Deswegen gehe ich immer mit einem rezeptfreien (methodenneutralen) Diagnosewerkzeug zu meinen Kunden. Rezepte mögen schnelle Lösungen versprechen. Wenn wir uns jedoch die kurze Zeit für eine Diagnose der Ursachen nehmen, ersparen wir allen Beteiligten, inkl. uns selbst, viele Frustrationsmomente. Wie ist euer Blick auf die Frage, warum agile so häufig "scheitert"?
Eine Ergänzung: Damit sagen ich nicht, dass agile Methoden nicht ihren Platz und ihre Wirksamkeit haben. Wir dürfen sie nur nicht unhinterfragt, über alle sichtbaren Symptome stülpen und das beste hoffen
"Wir bewundern das falsche Problem" – fantastisch, Stefanie Moeller 😊 Echte Agilität verspricht nichts, überhöhtes “Agile” schon. 👉 Agiles Verhalten ist stets eine Reaktion im Kontext dynamischer Bedingungen: Rollt ein Ball auf die Straße, gehe ich sofort vom Gas und weiche im Reflex aus. Das mache ich nicht, weil es Spaß macht, sondern weil es die Bedingungen im konkreten Moment so erfordern. 👓 Das originäre Problem entsteht aus einem Beobachtungsfehler, der Verselbstständigung und folgenden Industrialisierung dieser Beobachtung. 🤔 Darin steckt die Annahme, dass das beobachtete Verhalten zu besserer Produktivität und mehr Innovation führt, zu schnellerer Umsetzung und somit Wettbewerbsvorteil. Kurz: zu ganz viel Erstrebenswertem aus Sicht von Entscheider:innen. 💡 Dabei ist es andersherum: Ohne das initiale “Problem” der Dynamik ist gar kein agiles Verhalten notwendig. Was aus Implementierungsversuchen resultiert, ist ganz viel Theater 🎭 Inzwischen gehört es für Unternehmen aus anderen Gründen zum “guten Ton” auf dem agilen Spielfeld präsent zu sein. Welche das sind, habe ich hier vor einiger Zeit mal aufgeschrieben: https://www.linkedin.com/pulse/echte-agilit%25C3%25A4t-erkennt-man-am-kleinen-thomas-r%25C3%25BChl
Toller Beitrag. Frage mich gerade, ob das auch gut gelingt wenn das Management gar nicht den initialen Auftrag vergab "was agiles" einzuführen oder die agile Reise zu beginnen. Und kann in diesen sicher nicht unüblichen Fällen dennoch durch eine zügige Transformation zu Scrum der Weg bereitet werden auch die echten Ursachen zu finden, entsprechend zu prioriisieren und anzugehen? Beispielsweise, dass durch die neue Art der Zusammenarbeit und entsprechenden Formaten das Management überhaupt erst in die Lage versetzt wird daran zu arbeiten. Gut wenn man dann jemanden wie dich im Boot hat, der das was benötigt wird mitbringt. Daher ohne Zweifel ein wichtiger Aspekt und ein tolles Beispiel. Grundsätzlich sehe ich wenn es um die Frage geht warum Agile nicht hält was es verspricht das fehlende Verständnis was wirklich wichtig ist und was nicht passieren darf, um zu einer agilen Organisation zu werden, als entscheidend an.
Agilität verlangt eine andere Haltung, ein anderes Führungsverhalten und das alles mit ausgeprägter Kompetenz zur Selbstreflexion des Einzelnen und der Teams - und die Fähigkeit, mit den daraus entstehenden Erkenntnissen offen umzugehen, nicht wegzuschauen. Ist das im gesamten Führungssystem gegeben, gibt es solche Konstellationen wie du beschreibst wahrscheinlich deutlich seltener - andernfalls bin ich komplett bei dir, dann sind Transformationen zur Selbstorganisation häufig nur Symptombekämpfung.
Stefanie Hamann , sehr gute Beobachtung, danke für das Teilen! In meinem Jahren bei den Genossenschaftsbanken ist mir immer wieder aufgefallen, dass es eigentlich niemanden gibt, der für die Qualität des Produktportfolios Verantwortung übernimmt (Verantwortung tragen ist was anderes, im Prinzip liegt das bei den Bereichsleitern, aber die haben weder Zeit noch Kompetenz dafür). Es fehlt an einer Rolle wie Product Management (so wie es in anderen Industrien verstanden wird, nicht wie die Rolle "Produktmanager") in den Genobanken.
Liebe das. Wir müssen erst den inneren Zustand der Menschen und Systeme sehen. Dann iwan kommen Methoden. 🙏🏻
Ja! Und je mehr wir die falschen Dinge richtig machen, umso mehr entfernen wir uns von dem, was richtig ist. Da fällt spontan das Buch einer meiner Lehrer Jules Goddard ein “uncommon sense, common nonsense”. Vielen Dank für diesen tollen Beitrag!
neben "Problem nicht verstanden" würde ich ergänzen: - Methode (vor allem die Wirkprinzipien dahinter) nicht verstanden - Einführung und Begleitung vernachlässigt - Fit zur Unternehmenskultur vernachlässigt - Fehlender Rückhalt durch Unternehmensspitze
Wow, eine sehr große Frage, Stefanie. In der Beobachtung bin ich bei Dir. Die Initiativen hinter Agil halten nicht das, was sie versprechen. Warum ist das so? Nur mal vorab. Es liegt genauso wenig an Methoden und Werkzeuge, wie ich eine Maurerkelle dafür verantwortlich machen kann, wenn die Mauer schief geworden ist. Es wird oft blind und ohne Kenntnis des Ursprungs von Methoden und Werkzeuge diese eingesetzt. Und dann kommt auch noch ein Nichtwissen über die Geschäftsmodelle der Organisationen hinzu. Damit wird nicht an den echten Problemen der Wertschöpfung gearbeitet. Übrig bleibt gemeinsames Liedersingen und Ums-Feuer-Tanzen. Business Theater, wo die Rundheit eines Stuhlkreises wichtiger ist als das echte zu lösende Problem. Auch in Workshops und Trainings ist die Gestaltung des Flipcharts oft wichtiger als der Inhalt. Es soll mit Kunst in den Flipcharts Nichtwissen über Lösungsideen der echten Probleme kaschiert werden. Dabei ist die Idee hinter Agil uralt. Gerald Marvin Weinberg von IBM hat schon 1957 Gedanken dazu geäußert, dass Software iterativ und inkrementell entwickelt werden sollte, da Unbestimmtheit immer größer und damit Reproduzier- und Planbarkeit immer geringer wird.
Senior Lead Consultant Organisationsdesign - Verhältnisse schaffen Verhalten
2 MonateMatthias, Conny, Eloise, Johanna, Katharina Anna, Nicolas, David, Bryan, Christoph, Carsten mich würde auch euer Take auf das Thema interessieren!