Gurtenfestival AG
Episode I
Liegende Marionetten
Dort liegt sie. Halb unterhalb eines Stands des Food-Courts des Festivals, halb auf dem Raum vor dem Counter, an dem die Festivalbesucher*innen sich ihre Mahlzeit bestellen und entgegennehmen. Brechend voll ist der Court um diese fortgeschrittene Uhrzeit am letzten Festivaltag, der bei bestem Wetter auch vom Line-Up her Zug beim Publikum entwickelt hat. Dort liegt sie also, die junge Frau, die höchst wahrscheinlich seit geraumer Zeit selbst einen ziemlichen Zug am Berg entwickelt hat und daher nahezu komplett alkoholisiert weggetreten auf der Erde liegt. Der Anblick lässt das persönliche Stresslevel und die Sorge um den Zustand der Frau bei den Umstehenden rasch merklich ansteigen. Bei Eintreffen der alarmierten Careteams sind bereits Sanitäter*innen vor Ort, die ihre liebe Mühe haben, die Frau, die ohne jegliche Körperspannung und ohne willentliche Resonanz auf Ansprache unfähig ist, bei ihrem Abtransport mitzuhelfen, transportfähig zu machen. Bei der Betrachtung dieser Situation kommt einem unweigerlich das Bild einer Marionette in den Sinn, der die Fäden gekappt worden sind und bei der keine Steuerbefehle mehr ankommen. In dem Fall ist umgehend klar: das ist definitiv keine Aufgabe für die psychosoziale Unterstützung, die das Careteam von Kontext Mensch den Menschen auf dem Gurten anbietet. Nicht in dem Zustand der Betreffenden. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Wie soll man auch jemandem im Gespräch Unterstützung anbieten, der selbst partybedingt zumindest temporär gerade seiner Muttersprache und der Kontrolle wesentlicher Körperfunktion verlustig geworden ist? Mit sozialarbeiterischem Handwerkszeug wohl eher nicht. Da kommt einem zwangsläufig ein zünftig abgelatschter Treppenwitz der Sozialarbeit in den Sinn, der besagt, dass diese nur für lösbare Probleme zuständig ist. Was für diese Situation zweifelsohne der Fall ist. Und so verlassen mit diesen und ähnlichen Eindrücken und Einschätzungen versehen die herbeigerufenen Careteams, bestehend aus divers kombinierten Tandems, die durchaus bedrückend wirkende Szenerie. Schliesslich ist es so: Der Abend ist noch lang, die Musik noch lange nicht aus und die vielen Bars hochfrequentiert. Somit heisst es: weiterhin unterwegs sein; Waldbühne, Main-Stage, Soundgarden, Supermercado, Zeltbühne. Toure um Toure, Rotation um Rotation. Weiterhin Präsenz auf dem Gelände zeigen, die giftgrünen Westen mit der Beschriftung "Care Team" herzeigen und einen aufmerksamen Blick über die Menschen und das Gelände wandern lassen. Weiterhin ein achtsames Ohr auf den Funk haben, denn: es tut sich was im Äther. Die nächsten Aufträge kommen herein. Der Berg feiert, der Berg tanzt, der Berg flirtet - oder versucht es zumindest -und: der Berg trinkt weiter. Nicht nur nicht wenig, sondern mitunter auch deutlich zu viel. Eine Festivalrealität, die sich immer wieder in verschiedensten Situationen zeigt. Es wird viel gelegen, auf dem Gurten. Nicht immer freiwillig. Nicht immer bequem.
Large Account Sales Manager bei Avaya
6 TageWunderbar